„Mini-Riemenschneider“

1. Oktober 2024

„Mini-Riemenschneider“

Ein halbes Leben für die Minikopie des Herrgottstaler Marienaltars

„Kulturell interessiert und handwerklich begabt waren meine Brüder und ich wohl schon immer“, erzählt der heute 84-jährige Klaus Schoettle, der in jungen Jahren schon Freunde und Verwandte mit kleinen Schnitzkunstwerken beschenkte.

Im Jahr 1940 als jüngster Sohn in Bessarabien am Schwarzen Meer geboren, 1945 nach Halle an der Saal gezogen, wo sein Vater in russische Gefangenschaft geriet, mit Mutter und Brüdern über die grüne Grenze in den Westen geflohen, das waren seine ersten Lebensjahre.

Während der Zeit im Gymnasium in der neuen Heimat, dem Württembergischen Fellbach (1958), stieß der junge Schnitzkünstler bei einem Schullandheimausflug auf den kunstvoll gefertigten Marienaltar von Tilmann Riemenschneider in der Creglinger Herrgottskirche.

Diesen Tag hat er nie vergessen. Sein ältester Bruder hatte nach einer Rucksackreise durch England von einem Miniaturaltar eines Mönchs aus dem 15. Jahrhundert berichtet, den er unter den im Britischen Museum in London ausgestellten Geschenken an die englische Krone gesehen hatte. In jugendlicher Unbekümmertheit und dem insgeheimen Wunsch, etwas Anspruchsvolleres schaffen zu wollen, aber zu Hause kein Platz für größere Arbeiten war, musste er sich etwas einfallen lassen. „Es fiel mir wie Schuppen von den Augen“, berichtet er, als wäre es gestern gewesen. Die Idee einer exakten Miniaturnachbildung des Creglinger Marienaltars aus der Herrgottskirche (Original 9,20 Meter Höhe) im Maßstab 1:30 war geboren. Das war wirklich eine filigrane Angelegenheit und bedurfte einiges an Kreativität, um geeignetes Schnitzwerkzeug wie beispielsweise Stielfeilen, Nadeln, OP-Messer und geeignetes Holz als Rohstoff zu beschaffen.

Bei einem Schreiner in Fellbach wurde er fündig. Ein 150 Jahre altes Ahornbrett, ein Hartholz, schien dem jungen Künstler perfekt. Tillmann Riemenschneiders Marienaltar besteht übrigens aus weichem Lindenholz.

In Feinstarbeit

Mit viel Elan ging Klaus Schoettle auf dem heimischen Esszimmertisch ans Werk. Viele Jahre der Feinstarbeit, aber auch häufige Unterbrechungen durch Bundeswehr, einem Studium zum Maschinenbauingenieur, Familiengründung und beruflichen Unterbrechungen durch so einige Auslandsaufenthalte gingen ins Land. Mit circa 40 Jahren ließ so langsam das Sehvermögen nach, weshalb zuerst eine Stirnlupe und für die letzten Figuren im Hauptschrein des Mini-Altars ein Stereomikroskop von Nöten waren. „Mein schwäbischer Ehrgeiz half mir, das Werk nach 38 Jahren im Jahr 1996 fertigzustellen“, beschreibt Schoettle sein Durchhaltevermögen.

Der nachempfundene „Riemenschneider“ mit den Maßen 30 x 13, 5 x 3 cm durfte ins neugebaute Eigenheim in Willstätt ziehen, das Klaus Schoettle und seine Frau seit 2006 bewohnen. Das erstaunliche Schnitzwerk, das ein halbes Leben eines Schwaben gekostet hat und in einem badischen Wohnzimmer von Freunden und Besuchern bewundert wurde, sollte noch zu Lebzeiten des Künstlers einen würdigen Platz finden. Welcher Ort wäre da besser geeignet als die Herrgottskirche in Creglingen, wo Tilmann Riemenschneiders Original-Marienaltar zu Hause ist. Gesagt getan.

Seit dem Jahr 2021 hat der kleine Riemenschneider-Marienaltar in unmittelbarer Nähe des großen Originals Platz gefunden und wird im Sommermonat August durch die einfallenden Strahlen der Sonne zu einem „Lichtwunder“ vereint. ul

Schnitzkünstler Klaus Schoettle bei der Übergabefeier in der Herrgottskirche. Foto: Adam
Die detailgetreue Nachbildung des Herrgottstaler Marienaltars ist nur 30 cm groß. Foto: Adam

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